News-Preview

Eine gigantische Wanderwelle in Nachbarschaft zur Sonne

Die Radcliffe-Welle ist die größte jemals beobachtete, kohärente, wellenförmige Gasstruktur in unserer Milchstraße. Sie besteht aus miteinander verbundenen Sternentstehungsgebieten und erstreckt sich über 40 Prozent des Orion-Spiralarms, in unmittelbarer Nähe zur Sonne. Ein internationales Team, darunter ORIGINS-Wissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München, konnte nun nachweisen, dass es sich dabei um eine Wanderwelle handelt: Die Radcliffe-Welle schwingt um die galaktische Ebene und driftet zugleich langsam vom galaktischen Zentrum weg.

Die Radcliffe-Wanderwelle befindet sich in der Nähe zur Sonne (gelb) im Orion-Spiralarm unserer Galaxis. Die gigantische Gasstruktur besteht aus miteinander verbundenen Sternentstehungsgebieten (hellblau). Bild: Ralf Konietzka / Harvard University

Haben Sie in Ihrer Nachbarschaft auch schon einmal einen „neuen“ Ort entdeckt, ein nettes Café oder einen hübschen Garten vielleicht, und dann gemerkt, dass es den schon lange gibt und Sie nur nie richtig geschaut haben? So ging es den Astrophysikerinnen und Astrophysikern, die vor vier Jahren in der Nachbarschaft der Sonne zufällig eine gigantische zusammenhängende, wellenförmige Gasstruktur entdeckt haben. Die sogenannte Radcliffe-Welle ist eine von Sternentstehungsgebieten durchwirkte gewellte Gaskette, die sich über das halbe Firmament erstreckt: entlang dem Sternenband der Milchstraße von der Konstellation Cygnus bis hin zum Orion sowie 500 Lichtjahre ober- und unterhalb der galaktischen Scheibe. In einer neuen, im Fachjournal Nature publizierten Arbeit zeigten die Forschenden nun, dass es sich dabei um eine Wanderwelle handelt, die um die Ebene der Milchstraße oszilliert und vom Zentrum unserer Galaxis wegdriftet.

Unsere galaktische Nachbarschaft in 3D

Wir befinden uns mitten in der Stern- und Gasscheibe des Milchstraßensystems; eine Außenansicht unserer Heimatgalaxie werden wir daher nie erhalten. Aber wir können ein Bild unserer galaktischen Nachbarschaft von innen her erstellen und so die Gestalt der Milchstraße bestimmen. Ein internationales Team von Forschenden der Harvard University, der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und der Universität Wien unternahm eine erneute Analyse der Daten des Europäischen Weltraumteleskops GAIA, das seit über zehn Jahren mit außerordentlicher Genauigkeit die Bewegung der Sterne des Milchstraßensystems kartiert. Mit zusätzlichen Messungen von absorbiertem Sternenlicht gelang ihnen eine tomographische Rekonstruktion der dreidimensionalen galaktischen Staubverteilung. Zusammen mit den von GAIA gemessenen Sternbewegungen errechneten sie so eine dynamische 3D-Karte aller benachbarten Sterngruppen und Gaswolken.

Am zweidimensionalen Nachthimmel ist die Welle unsichtbar. Erst die neue 3D-Technik zur Kartierung von interstellaren Wolken enthüllte das gewaltige Wellenmuster. Das internationale Entdeckerteam wird von Harvard-Doktorand Ralf Konietzka angeführt, der zuvor Masterstudent von ORIGINS Astrophysiker Prof. Andreas Burkert an der Universitäts-Sternwarte der LMU war). Die Forscher, darunter auch Prof. Burkert, sowie Astrophysiker aus Harvard und der Universität Wien zeigt mithilfe der 3D-Bewegungen von jungen Haufen von Babysternen in Sonnennähe, dass die Radcliffe-Welle nicht nur wie eine Welle aussieht, sondern sich auch wie eine Welle bewegt. Mit anderen Worten: Sie oszilliert. „Anhand der Bewegung der Babysterne, die entlang der Radcliffe-Welle geboren wurden, können wir die Bewegung ihres Ursprungsgases nachverfolgen und zeigen, dass die Welle tatsächlich schwingt“, sagt Ralf Konietzka.

Schaukelnde Babysterne

Die beobachtete Schwingung steht im Einklang mit dem, was Physikerinnen und Physiker als Wanderwelle bezeichnen. Wie Wellen, die sich über dem offenen Ozean ausbreiten, verschieben sich die Wellenberge und -täler der Radcliffe-Welle mit der Zeit. Die in der Welle entstehenden Babysterne verhalten sich dabei ähnlich wie Bojen: Sie schaukeln auf und ab und signalisieren so eine wiegende Bewegung in der galaktischen Scheibe.

Unsere Sonne befindet sich (zufällig) im Zentrum der Lokalen Blase, einem von mehreren Supernova-Ausbrüchen leer gefegten wachsenden Hohlraum, an dessen Rändern neue Sterne entstehen. Anhand der Wanderrichtung der Radcliffe-Welle lässt sich zurückverfolgen, dass der Sternhaufen, dessen Supernovae die Lokale Blase geschaffen haben, vermutlich einst in einer Sternenkinderstube der Radcliffe-Wellen entstanden ist.

Es ist noch unklar, welche Prozesse für die Radcliffe-Welle verantwortlich sind. Künftige Beobachtungen der Bewegung von Sternentstehungsgebieten in anderen Galaxien könnten Aufschluss darüber geben, ob großräumige Gasstrukturen wie die Radcliffe-Welle verbreitete Phänomene sind, und möglicherweise Indizien zu ihrer Herkunft liefern. “Die spannende Frage ist nun, wie diese große Störung entstehen konnte, die gerade an der Sonne vorbei läuft und was wir daraus über die Struktur und Entwicklung unserer Milchstraße lernen können”, schließt Andreas Burkert. (os)

Publikation:
R. Konietzka, A. A. Goodman, C. Zucker, A. Burkert, J. Alves, M. Foley, C. Swiggum, M. Koller, N. Miret-Roig, The Radcliffe Wave is Oscillating, Nature, 2024

Weiterführende Links:

LMU Pressemeldung


Kontakt:
Prof. Dr. Andreas Burkert
Ludwig-Maximilians-Universität München / ORIGINS Exzellenzcluster
burkert(at)usm.uni-muenchen.de