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Messung des gebundenen $\beta$-Zerfalls in Thallium hilft bei der Bestimmung der Zeitskala der Sonnenentstehung

Radioaktive Kerne mit sehr langer Lebensdauer können wichtige Daten für die Entstehungsgeschichte unserer Sonne liefern, besonders wenn ihre Lebensdauer stark von der Umgebung abhängt. Thallium ($^{205}$Tl) ist einer der wenigen Kerne, die als Atom stabil sind, aber ohne ihre Elektronenhülle, beispielsweise in einem Sternenplasma, nach kurzer Zeit zerfallen. Einer internationalen Kollaboration unter Beteiligung von ORIGINS-Wissenschaftlern ist es nun gelungen, den $\beta$-Zerfall von vollständig ionisiertem $^{205}$Tl im gebundenen Zustand zu messen. Die Ergebnisse belegen eine langlebige, riesige Molekülwolke als den Entstehungsort der Sonne. Sie bestätigen auch die Eignung des Pb-Tl-Zerfallssystems als Chronometer im frühen Sonnensystem. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.

Künstlerische Darstellung der Entstehung der Sonne aus einer Molekülwolke. Im Vordergrund sind Meteoriten, deren Bleianreicherungen zur Datierung in frühen Sonnensystem verwendet werden kann. Bild: Danielle Adams für TRIUMF

Der gebundene  $\beta$-Zerfall ist ein Zerfallsmodus, der nur bei hochgeladenen Ionen eine Rolle spielt und ein stabiles Thalliumisotop wie 205Tl in ein radioaktives Ion verwandeln kann, wenn alle Elektronen entfernt werden (wie bei 205Tl81+). Dieser einzigartige Zerfallsmodus wurde bisher nur am Experimentierspeicherring (ESR) des GSI/FAIR am Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt beobachtet – dem einzigen Gerät, das derzeit in der Lage ist, viele Millionen vollständig ionisierter schwerer Ionen für mehrere Stunden zu speichern.

Eine fast fünfmal längere Halbwertszeit

„Die Messung von 205Tl81+ wurde in den 1980er Jahren vorgeschlagen, und wir waren bereits vor fast 20 Jahren an einem Pilotexperiment beteiligt, bei dem wir aber noch weit davon entfernt waren, genügend Thallium Ionen in den Speicherring einfüllen zu können“, sagt ORIGNS-Wissenschaftler Roman Gernhäuser von der TUM. „Der 205Tl-Strahl musste auch jetzt am Fragmentseparator (FRS) von GSI/FAIR in einer Kernreaktion erzeugt und mithilfe vieler Injektionen in den ESR transportiert werden, um eine ausreichende Zahl an gespeicherten Ionen zu erreichen. Das FRS-Team hat eine bahnbrechende neue Vorgehensweise entwickelt, um die erforderliche Strahlintensität für ein erfolgreiches Experiment zu erzielen,“ sagt Professor Yury Litvinov von GSI/FAIR, Sprecher des Experiments.

Das Experiment wurde im Jahr 2020 während der ersten Wochen der COVID-19-Einschränkungen durchgeführt. „Wir waren komplett überrascht und mussten binnen Tagen lernen, wie wir in permanent laufenden Videokonferenzen das lokale Team, das einen unglaublichen Job gemacht hat, unterstützen können“, sagt Roman Gernhäuser. „So konnte auch unser Silizium Detektorarray mit Namen CsISiPHOS, das wir an der TUM zusammen mit dem TRIUMF und der GSI entwickelt hatten wertvolle Daten liefern. „Wir haben die Analyse dann über drei Jahre hinweg perfektioniert, was sich gelohnt hat. Die gemessene Halbwertszeit von 291(+33)(-27) Tagen ist fast fünfmal so lange wie erwartet. Das zeigt die Wichtigkeit einer experimentellen Bestimmung,“ sagt Guy Leckenby, Doktorand am TRIUMF und Erstautor der Veröffentlichung.

Labormessung verbessert Sternenmodelle

“Da wir die Halbwertszeit nun kennen, können wir die Umwandlungsraten von 205Tl in 205Pb und zurück in verschiedenen Plasmaumgebungen in Sternen genau berechnen. ”, sagt Dr. Riccardo Mancino, der diese an der TU Darmstadt und bei GSI/FAIR berechnet hat. „Mit modernen Rechnern und den neuen experimentellen Ergebnissen konnten wir deutlich verbesserte Raten für die AGB-Modelle liefern.“

Der asymptotische Riesenast (engl. asymptotic giant branch oder kurz AGB) bezieht sich auf Sterne mit der 0,5- bis achtfachen Masse unserer Sonne am Ende ihres Lebenszyklus. Dort entstehen durch langsamen Neutroneneinfang im so genannten s-Prozess Elemente, die schwerer als Eisen sind. Forschende des Konkoly-Observatoriums in Budapest, des INAF Osservatorio d'Abruzzo und der Universität Hull finden mit den neuen stellaren 205Tl/205Pb -Zerfallsraten in ihren astrophysikalischen AGB-Modellen ein Zeitintervall für den Kollaps der präsolaren Gaswolke, das mit anderen radioaktiven Spezies übereinstimmt. Kurz gesagt, ist das ein neuer Messpunkt dafür, wie lange die Bildung unserer Sonne vor über 4,5 Milliarden Jahren gedauert hat.

Die gemessene Halbwertszeit des gebundenen  $\beta$-Zerfalls ist für die Analyse der Akkumulation von Blei im interstellaren Medium unerlässlich. Um sie vollständig zu verstehen, sind allerdings weitere Forschungsarbeiten unter Berücksichtigung der gesamten Geschichte der Galaxie erforderlich. Zusätzlich zu den geplanten fortgeschrittenen Simulationen der chemischen Entwicklung der Galaxie wird eine weitere Messung der Neutroneneinfangrate von 205Pb mit Hilfe der Surrogatreaktionsmethode am ESR vorgeschlagen. Zahlreiche weitere hochwirksame Experimente sind für die neuen Schwerionenspeicherringe der künftigen Beschleunigeranlage FAIR vorgesehen, die derzeit bei GSI gebaut wird.

Die Arbeit ist den verstorbenen Kollegen Fritz Bosch, Hans Geissel, Roberto Gallino, Paul Kienle, Fritz Nolden und Gerald J. Wasserburg gewidmet, die diese Forschung initiiert und über viele Jahre unterstützt haben.


Publikation:
G. Leckenby, R.S. Sidhu, R.J. Chen, R. Mancino, B. Szanyi et al. "High-temperature 205Tl decay clarifies 205Pb dating in early Solar System", Nature 2024

Nature Podcast (Interview mit Guy Leckenby)

Pressemeldung GSI

Kontakt:
Dr. Roman Gernhäuser
Technische Universität München / Exzellenzcluster ORIGINS
E-Mail: roman.gernhaeuser(at)ph.tum.de